Wohlorchestrierte Panik. Damit beginnt die Inszenierung des Genozids von Srebrenica von Jasmila Zbanic. Dieses Gefühl steigert sich fast über den gesamten Film, bis es nicht mehr geht. Bis zum Massenmord. Das überwältigende und emotional überfordernde letzte Drittel zeigt dann die Nachwirkungen des Krieges. Das Ausmaß der Zerstörung auf einer ganz persönlichen Ebene. Wie soll man nach einer solchen Tat und einem solchen Krieg den eigenen Nachbarn noch trauen? „Quo Vadis, Aida?“ liefert darauf keine Antworten. Aber der Film offenbart den Schrecken eines Konflikts, der viel zu selten thematisiert wird.

von Marius Ochs

Die Kriege, die mit dem Zusammenbruch Jugoslawiens einhergingen, waren die letzten bewaffneten Auseinandersetzungen auf dem europäischen Kontinent. Einige der damaligen Kriegsparteien sind heute Mitglied der EU, immerhin Friedensnobelpreisträgerin. In einer Erhebung der Uni Bamberg wurde deutlich, dass Deutschland zwischenzeitlich die meisten Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten aufnahm: 350.000. Relativ gesehen nahm Österreich am Meisten auf, pro 1000 Einwohner gab es zwischenzeitlich sechs Asylsuchende. Viele kehrten nach dem Ende der Kriege wieder in ihre Heimat zurück, einige wurden deutsche und österreichische Staatsbürger. Mit diesen Menschen sind auch ihre Geschichten und Traumata wichtiger Teil unserer Gesellschaft geworden. „Quo Vadis, Aida?“ hilft zu verstehen, was Krieg bedeutet und weshalb die Flucht oft das einzige Mittel ist.

Der Film wird aus der Perspektive einer bosnischen UN-Dolmetscherin erzählt. Eine perfekte Wahl. Denn so erhält Zbanics Protagonistin Aida, die oscarreif von Jasna Duricic gespielt wird, zwar einen Zugang zu den wichtigsten Ereignissen rund um die Massaker im Juli 1995. Doch sie ist machtlos. Sie kann nur zuschauen, verstehen, verzweifeln. Zuschauen, wie ihre Freunde und Familie wie Tiere eingepfercht werden. Verstehen, dass die Hoffnung auf ein Überleben gering ist. Verzweifeln an der Kommandokette der UN-Truppen, dargestellt als kraftloser, bürokratischer Scheinriese. Ein Thema, dass auch bei der filmischen Verarbeitung eines anderen Genozids in „Hotel Ruanda“‘ eine zentrale Rolle spielt. 

Durch diese Machtlosigkeit werden Blicke zum stärksten Mittel von „Quo Vadis, Aida?“. In der einzig ausgelassenen und scheinbar glücklichen Szene, einem Flashback, sieht man die Gemeinde von Srebrenica, Arm in Arm tanzend. Der Vielvölkerstaat in Jugoslawien ist noch intakt. Nachbarn unterschiedlicher Religionen und Ethnien trinken miteinander, vertragen sich, lachen. Bei einem Kreistanz bleibt die Kamera dann plötzlich ganz still, wo sie zuvor suchend Aida folgte. In das Blickfeld der Kamera tanzen nach und nach die Gäste der Party. Doch ihr Gesichtsausdruck ist starr und ernst, so als wüssten sie, was auf sie zukommt. Sie schauen direkt in die Kamera, man kann sich den Blicken nicht entziehen. Es sind Kontraste wie diese, Blicke, die das Unaussprechliche zeigen, die den Film so eindringlich und unvergesslich machen.

Dabei ist die Darstellung eines Genozids eine große Herausforderung. Zbanic meistert sie. Er schafft es, trotz des Verzichts auf explizite Gewaltdarstellung, ein stetig eskalierendes Gefühl des Schreckens zu kreieren. Er nutzt das Wissen der Zuschauerinnen und Zuschauer um die unausweichliche Katastrophe. Das Familienschicksal von Aida ergänzt diese Dramatik um eine intime und emotionale Seite. Der Rhythmus des Films ist alleine schon ein handwerkliches Meisterwerk, die ruhigen Szenen des Wartens und die panische Schnelligkeit, die jederzeit ausbrechen kann, vermengen sich zu einem dicken Kloß im Hals. 

Fazit

„Quo Vadis, Aida?“ bleibt im Gedächtnis. Ohne moralisch oder anklagend zu werden wirft der Film Fragen auf, deren Antworten kaum möglich sind. Die Unabwendbarkeit und der Schrecken der Ereignisse brennt sich beim Zuschauen tief ein, das ungute Gefühl verschwindet zu keinem Zeitpunkt. Regisseur Jasmila Zbanic macht die unaussprechliche Katastrophe intim erlebbar. Die Blicke seiner Charaktere sind wütend, anklagend, resigniert. Ein unvergesslicher Schmerz zieht sich durch den Film. Doch das Leben muss trotzdem weitergehen. Ein Meisterwerk.

Bewertung

Bewertung: 9 von 10.

(89/100)

Bilder: ©farbfilm verleih gmbh / Polyfilm